Turnen war immer politisch
Die Gründung der Turnbewegung ist unmittelbar mit Friedrich Ludwig Jahn und seinen Ideen von einem geeinten Deutschland verbunden. Vor der Turnsperre und in den Jahren um die deutsche Revolution 1848 entwickelten sich Vereine, die den Forderungen Jahns entgegenkamen: Einerseits Erziehung zu einer gesunden körperlichen Entwicklung durch das Turnen, andererseits Streben nach Freiheit und Einigkeit eines Vaterlandes für alle Deutschen. In der Anfeindung gegen Jahn und gegen diese Bestrebungen lag die Triebfeder, Turnvereine zu gründen.
Die Entstehung des Turnvereins Wedding im Jahre 1862 war eine Folge dieser Entwicklungen. Nur war die Zeit nicht gerade günstig für solche Unternehmungen. Der Staat stand den Vereinen misstrauisch gegenüber. Alles beruhte auf Eigeninitiative. Staatliche Unterstützung war undenkbar. So mussten sich die Mitglieder 1862 die Geräte für ihren Turnplatz im Apfelweingarten selber bauen oder beschaffen. Beleuchtung – heute knipst sie der Hausmeister oder der Platzwart auf Kosten des Berliner Senats einfach an – wurde gemietet, bezahlt oder mittels Papierballons selbst erstellt.
Die Umstände waren also für Vereine nicht gerade günstig, andererseits schufen sie unter den Mitgliedern immer wieder einen starken Zusammenhalt. Wann immer möglich, wurden Jungen- oder Mädchenabteilungen, Abteilungen für Frauen und Lehrlinge ins Leben gerufen und mussten aufgegeben werden, wenn die entsprechende Leitung fehlte.
Überdauert hat die 1890 gegründete Damenabteilung, die älteste in ganz Berlin. Möglich war sie nur, weil der damalige Vereinsvorsitzende, Adolf Schröder, für diese Gruppe auf eigene Kosten und eigene Verantwortung eine Turnhalle mietete, einen Halle, die endlich auch mit Geräten ausgerüstet den Vereinen zur Verfügung stand. Man konnte daran gehen, vereinseigene Geräte zu verkaufen.
Nicht deutlich wird aus dem Vereinsarchiv die Entwicklung im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Der Verein war damals als Turnverein Wedding Mitglied im Berliner Turnrat. Mit dessen politischen Bestrebungen waren offensichtlich damals sozialistisch eingestellte Mitglieder nicht einverstanden und verließen 1908 den Verein. Bedenkt man, dass von ungefähr 150 erwachsenen Mitgliedern etwa 70 dem Verein den Rücken kehrten, kann man sich den Schaden, verursacht durch diesen Aderlass, lebhaft vorstellen. Dabei entstanden die Zwistigkeiten wahrlich nicht im Verein, sondern wurden von außen durch die Politik hineingetragen.
Mit der so dezimierten Schar der Getreuen ist es erstaunlich, dass das Vereinsleben die Kriegsjahre 1914 bis 1918 überdauert hat. Auch hier stärkten die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten die Vereinsgemeinschaft für ein überleben.
Nach Kriegsende 1918 kam es zu einer Wiedervereinigung der auseinanderdriftenden Gruppen und zu einer Ausrichtung auf die Linie des Arbeiter- Turn- und Sportbundes. Die bürgerliche Richtung, hin zur Deutschen Turnerschaft, wurde abgelehnt.
Gewiss war die Folgezeit nicht leicht. Inflation und wachsende Arbeitslosigkeit schufen aber wieder Nährboden für eine aufstrebende Entwicklung des Vereins. Wirtschaftspolitische Schwierigkeiten ließen die Mitglieder nun als Bezirk Wedding in der Freien Turnerschaft von Groß Berlin eng zusammenstehen. Handball und Leichtathletik wurden in den Verein aufgenommen. Eine Blütezeit entstand, die den Wunsch auf Eigenständigkeit wachsen ließ und zur Gründung des „Volkssport Wedding“, Mitglied im Arbeiter-, Turn- und Sportbund, 1932 führte. Der damalige 1. Vorsitzende Richard Toppel stand unserem Verein auch nach 1945 noch lande Jahre zur Verfügung.
Man hatte sich 1922 also der sozialdemokratischen Richtung, dem ATuS, zugewandt, nicht dem kommunistisch beeinflussten Verein „Fichte“, aus dem viele Mitglieder austraten, um zu unserem Verein zu stoßen. Damit war aber die Auflösung des Vereins nach 1933 vorprogrammiert.
Erst ein paar Hürden:
Dann gibt es im „Oeffentlicher Anzeiger“ eine offizielle Bekanntmachung.
Wieder ist aus dem Vereinsarchiv das schon bekannte Phänomen zu bemerken: Die Liquidation des Vereins löste die Gemeinschaft unter den Mitgliedern nicht auf, sondern stärkte sie. Innenpolitische Auseinandersetzungen sorgten dafür, dass der Verein nach 1945 wieder entstehen konnte. Auch ohne Existenz des Vereins trafen sich seinen Mitglieder jedes Jahr am 1. Weihnachtsfeiertag im alten Vereinslokal bei Otto Sath am Sparrplatz. Und dieselben Mitglieder, die niedergeschlagen 1933 dem Vereinsleben Lebewohl sagen mussten, waren nach Kriegsende 1945 zur Stelle im Bemühen, den „Volkssport Wedding“ wieder erstehen zu lassen.
Bereits 1946 bemühten sich viele alte Volkssportler, durch Einrichtung von Kinder- und Jugendturnabteilungen an alte Traditionen anzuknüpfen. Zu einer Zulassung als Turnverein indes kam es erst 1949.
Für uns ist der mühselige Weg durch bezirkliche, städtische und alliierte Instanzen, den unsere Vorgänger in den Vorstandsämtern zu gehen hatten, heute unvorstellbar. Daneben mussten die übungsabende mit oft bis zu 100 Kindern in unzulänglichen Hallen absolviert werden. Und all das in einer Zeit bitterster Entbehrungen. Wieder zeigte sich: Je schwieriger die Umstände, desto fester die Gemeinschaft.
Es entstanden wieder eine Sportabteilung, Handball-, Prellball- und Faustballmannschaften. Sie wurden von den alten Vorkriegsmitgliedern ins Leben gerufen und dann, aber sehr allmählich, mit jugendlichem Nachwuchs besetzt. Eine bereits bestehende Tennisabteilung stieß zum Verein.
Von den Alten leben heute nur noch wenige. Ihre Verdienste und die Verdienste derer, die bereits von uns gegangen sind, sind im Verein bekannt und gewürdigt worden. Sie haben den Verein allmählich in die Hände jüngerer gelegt und ihn in eine vermeintlich friedliche Zeit entlassen, die eine ruhige Entwicklung begünstigen müsste. Es ist aber keine Zeit, in der Vereinsgemeinschaft, übernahme von Verantwortung für andere, idealistisches Streben für die Sache des Sports erstrebenswerte Ziele sind. Viele können sich heute kaufen, was sie gerne haben wollen – und zu diesen käuflichen Konsumgütern gehört auch der Sport. Damit ist die Existenz der auf Gemeinschaft und Verantwortungsbewusstsein basierenden Vereine aufs höchste gefährdet. Vereinsaufgaben, die vormals von jedem Mitglied, so es dazu erwählt wurde, laut Satzung übernommen werden mussten, werden heute kaum noch übernommen. Unseren Verein, der 1963 seinen Namen in TSV Berlin-Wedding änderte, ist das bis heute noch immer gelungen. Junge Mitglieder gründeten 1975 eine Abteilung für Volleyball und 1979 eine für Badminton. Damit öffnete er sich moderne Sportarten, ohne mit der Tradition zu brechen. Er ist heute Heimat für viele Bevölkerungsschichten, seine Mitglieder kommen aus ganz Berlin. Aber eine wesentliche politische Aufgabe darf nicht beiseite geschoben werden:
Die damals jugendlichen und heute erwachsenen Mitglieder, die durch die Opferbereitschaft der alten Volkssportler in einer intakten Vereinsfamilie erlebnisreiche und freudvolle Jahre genießen durften, müssen heute die Verantwortung für die nachwachsende Generation übernehmen, den Kindern und Jugendlichen der heutigen Zeit, die noch nicht wie die älteren Sport in Fitnesscentern, Erlebnisbädern und im Aktivurlaub kaufen können, den Gemeinschaftssinn der alten Sportvereine vermitteln. Integration der nicht ganz so wohlhabenden in die Vereine ist heute unsere sozialpolitische Aufgabe. Ich wünsche allen Vereinen und auch dem TSV Wedding, dass die Zeiten nicht erst wieder schlechter werden müssen, damit die Vereinsgemeinschaft erstarkt. Sie möge, weil wir heute alle klüger sind als früher, die von den alten gestellte Aufgabe übernehmen.
-hm-